Mama macht sich Vorwürfe

Es mag im April 1933 gewesen sein, vielleicht auch schon im März, als in unserer Wohnung eine ziemliche Unruhe entstand. Politische Freunde von Mama kamen und berieten mit ihr hinter verschlossenen Türen. Beim Abendessen sagte sie: »Wir bekommen für einige Tage Besuch.« Und nach einer Pause: »Es ist jemand, der von der Polizei gesucht wird. Kein Mensch im Haus darf etwas davon erfahren.«

»Muß das sein?« fragte Papa und schüttelte verständnislos den Kopf. »Gibt es kein besseres Versteck als ausgerechnet unsere Wohnung? Müssen wir da auch noch mit hineingezogen werden?«

Gereizt gab Mama zurück: »Meinst du vielleicht, mir passt es?«

Ich mußte die hintere Kammer mit dem Fenster zum Lichtschacht räumen, und bereits am anderen Abend kam die Angekündigte, eine junge Frau. Sie hieß Franziska Kessel und war kommunistische Reichstagsabgeordnete, ich glaube, sie war zu der Zeit die jüngste deutsche Reichstagsabgeordnete überhaupt. Ich kannte sie gut von ihren früheren Besuchen bei Mama. Sie hatte bei der alten Frau Röhrig in der Adlerflychtstraße gewohnt. Nachdem Franziska Kessel untergetaucht war, wurde Frau Röhrig zwei Tage eingesperrt und dabei pausenlos verhört. Die alte Dame war »aus gutem Hause«, unverheiratet, und sympathisierte mit den Kommunisten. Sie unterstützte karitative und politisch linksorientierte Hilfsorganisationen mit Geldbeträgen, war auch selbst aktiv und stellte in den ersten Monaten der Hitlerzeit ihre Wohnung als Treffpunkt zur Verfügung. Nach dem Verbot der Linksparteien kümmerte sie sich um die Illegalen. Wiederholt wurde sie auf die Polizei bestellt und nach Personen befragt, die auf den Fahndungslisten standen. Zweimal kurz hintereinander durchsuchte die Gestapo ihre Wohnung bis in den kleinsten Winkel, weil sie hoffte, Hinweise auf Kommunisten zu finden. Trotzdem sah ich sie später gelegentlich bei den heimlichen Zusammenkünften der kleinen politischen Gruppe, zu der Mama gehörte und die sich fast ausschließlich aus jüdischen Intellektuellen zusammensetzte.

Bis sich Franziska Kessel an einem neutralen Ort verstecken konnte, sollte sie in unserer Wohnung bleiben, weil sie nach Meinung ihrer politischen Freunde bei uns für wenige Tage immer noch sicherer war als in einem Hotel. Mama hatte große Angst, die prominente Kommunistin könne ausgerechnet bei uns entdeckt werden. Darum drängte sie, daß Franziska Kessel uns bald wieder verlasse. Einmal hörte ich aus dem Nebenzimmer Teile eines erregten Gesprächs, bei dem Mama irgendwen beschwor, schnellstens ein anderes Quartier zu finden, die Polizei wisse doch, daß die Gesuchte mit ihr bekannt sei.

 

Ihr Drängen hatte Erfolg. Franziska Kessel verließ uns am darauffolgenden Abend. Schon einige Tage später wurde sie verhaftet. Mama machte sich Vorwürfe, daß sie möglicherweise mitschuldig an der Verhaftung sei; da sie schon einmal bei uns einen Unterschlupf gefunden hatte, wäre es auf zwei oder drei Tage auch nicht mehr angekommen. Im nachhinein halfen die Vorwürfe niemandem, eindeutig aber war Mamas Angst um ihre Familie stärker gewesen als die Solidarität mit einer verfolgten Gesinnungsgenossin.

Man machte Franziska Kessel den Prozeß, verurteilte sie im Herbst 1933 zu mehreren Jahren Zuchthaus, und ein halbes Jahr später war sie tot. Nach schweren Mißhandlungen in einer Mainzer Strafanstalt soll sie sich in ihrer Zelle erhängt haben.

Mama weinte, als man uns die Nachricht überbrachte. Obwohl sie später kein einziges Mal mit mir darüber sprach, spürte ich, daß sie sich in gewisser Weise mitschuldig fühlte am Tod Franziska Kessels. Sie hat den Schock nie überwunden.

 

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